Ausstellung: 17. September – 14. November 2015
Eröffnung: 16. September, 18–21 Uhr
In ihrer dritten Einzelausstellung in der Galerie Barbara Wien geht Mariana Castillo Deball von ihrem Projekt Who will measure the space, who will tell me the time? (2015) aus. Die Skulpturen dieses Projekts waren zuerst im Museo de arte contemporáneo de Oaxaca (Mexiko) (1), und danach in Frankreich, im Musée Régional d’Art Contemporain Languedoc-Roussillon (Sérignan) (2) ausgestellt. Die Präsenz der Pfeiler wird nun in der Berliner Ausstellung Reliefpfeiler weiterentwickelt. Begleitet und unterstützt werden die Skulpturen von einer Serie von Zeichnungen und der vierten Ausgabe von Deballs kollaborativer Forschungszeitschrift Ixiptla (die sich der Dichtung widmet und im November 2015 im Wiens Verlag und bei Bom Dia Boa Tarde Boa Noite in Berlin erscheinen wird).
Die ursprüngliche Frage für das Projekt war, welche Beziehung die Töpfer in Atzompa (Oaxaca) zu ihrem archäologischen Erbe haben, wie sie sich heute zeigt, sich verändert und teilweise in Auflösung begriffen ist. Weit entfernt von einer puristischen Haltung, begann diese Arbeit mit Diskussionen über Themen wie Kopie, Fälschung, Stilveränderungen und den Einflüssen in der Geschichte der Archäologie Mexikos. Zusammen mit Kythzia Barrera von der Gruppe Innovando la tradición und der Familie Martínez Alarzón aus Atzompa besuchte Deball das archäologische Museum Rufino Tamayo, wo sie ihre Lieblingsobjekte aussuchten. Zu diesen Objekten fügten sie Muttern und Zahnräder hinzu, die sie in Ramiro Alarzón’s Autowerkstatt fanden, auch einen Kreisel, einen Ball und anderes Zubehör. Sie bildeten ein Repertoire, ein Vokabular, um eigene Geschichten zu erzählen.
Die Vorgehensweise ist dem surrealitischen cadavre exquis ähnlich, dem Stille-Post-Spiel oder jeder anderen Art von Weitergabe, die allmählich Teile zu schon Vorhandenem addiert. Die Gruppe teilte sich in zwei. Die Hauptaufgabe bestand darin, eine Geschichte zu entwickeln, die sich in einhundert Jahren abspielt, und eine, die sich an einem Tag ereignet. Am Ende beschlossen die Mitarbeiter des Projekts, zwei Geschichten vom Ursprung des Universums in den zwei Zeitspannen zu erzählen. Deball schreibt dazu: "The two stories are almost the same, which got us thinking. Then came the story of the journey of a potter, since he wakes up at dawn to prepare the clay until he finishes the pieces, burns them, and then leaves to sell them in order to buy corn to eat. And then every character became clay, and we ordered them in columns to reach the ceiling, so visitors can surround the stories of top-down and bottom-up."
Gewöhnlich stellt Deball in ihrer Arbeit eher Fragen anstatt Antworten zu geben.
Sie schafft damit einen Freiraum für Zusammenarbeit und Austausch mit anderen. Tatsächlich handelt es sich bei jedem der Pfeiler um eine materielle Erwiderung, eine Darstellung der Antworten der Familienmitglieder auf die zwei in der Gruppe entwickelten Fragen:
- Wie kann die Geschichte des Universums in hundert Jahren erzählt werden?
- Wie kann die Geschichte des Universums an einem Tag erzählt werden?
Wir sind also mit komplexen Bilderrätseln konfrontiert. Mehrere Muster sind in den verschiedenen Tonmodulen zu erkennen: vorspanische Figuren (aus Rufino Tamayos Museumssammlung in Oaxaca), Muttern, Schrauben, Spielzeuge und sogar Brancusis berühmten Rauten der Endlosen Säule. Töpferei ist das wichtigste Handwerk der Bevölkerung von Atzompa, und die Pfeiler spielen mit dieser uralten Tradition, um Fragen nach Authentizität zu stellen, indem das Handwerk in den zeitgenössischen Kunstkontext gesetzt wird. Die Entwicklung der Töpferkunst wird in gewisser Weise von archäologischen Fantasien bestimmt. In Who will measure the space, who will tell me the time? werden das Traditionelle und Zeitgenössische auf eigentümliche Weise vermischt, ein Repertoire von Mustern angeeignet und wieder freigegeben, wodurch eine simulierte oder rein intellektuelle Begegnung zwischen Handwerk und zeitgenössischer Kunst vermieden wird. Es kommt zu keinem Aufeinanderprallen der beiden Bereiche, stattdessen werden sie ineinander verschränkt.
Da wir auf Buchstaben fixiert sind, versuchen wir zwanghaft Bedeutungen innerhalb der Muster zu erkennen, wir lesen sie als Worte, die zusammenhängende Sätze ergeben. Doch die Pfeiler stellen keine auflösbaren Rätsel dar, sie schlagen vielmehr ein alternatives System vor. Selbst wenn sie "große Erzählungen" (in diesem Fall die "Geschichte des Universums") verkörpern, so sind ihre Antworten beliebig, weil subjektiv. Man könnte Who will measure the space, who will tell me the time? folglich als eine spielerische Wiederaneignung der "Universalgeschichte" durch lokale und individuelle Bilderwelten betrachten. Die Künstlerin stellt die lineare Kohärenz infrage und ermöglicht eine diskontinuierliche Erzählung, in der das Antike und Zeitgenössische, Geschichte und Mythos, Authentizität und Nachbildung aufeinandertreffen. Die Trope des Vertikalen (die sich in der gesamten Ausstellung, insbesondere in den Zeichnungen, wiederholt), spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie bietet eine interessante Alternative zur horizontalen Linearität, die in westlichen Kulturen zur Darstellung von Zeit und Geschichte privilegiert wird (etwa im chronologischen Fries, den man von links nach rechts liest). Wie ein Palindrom funktioniert die vertikale Säule in beide Richtungen und definiert weder Anfang noch Ende.
Mit Reliefpfeiler liefert Deball keinen Kommentar zu den "großen Erzählungen" selbst, sondern reflektiert über die unterschiedlichen Systeme, die ihre Darstellungen erzeugen. Dabei bezieht sie sich auf mehrere Sprachformen und deren Geschichten und baut damit Verbindungen auf zwischen Bildern, Reliefs, Materialien, Farben, Worten und Kompositionen.
(1) ’’Quién me dirá el espacio, quién me dirá el momento ?’’, Museo de arte contemporáneo de Oaxaca maco, Oaxaca, Mexiko, 24.01. - 20.04.2015
(2) ’’Cronotopo’’, Musée Régional d’Art Contemporain Languedoc-Roussillon, Sérignan, Frankreich, 28.06. - 30.08.2015
(Pressetext in Zusammenarbeit mit Gauthier Lesturgie)
Mariana Castillo Deball (* 1975 in Mexiko City, lebt und arbeitet in Berlin)
2013 gewann Deball den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst in Berlin. Ihre Arbeiten wurden in vielen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt u.a. im Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart, Berlin (2014), CCA Glasgow, Haus Konstruktiv Zürich, documenta 13 Kassel (2012), 54. Venedig Biennale (2011), Kunst Halle Sankt Gallen (2009), Manifesta 7 Rovereto (2008).
Exhibition: September 17 – November 14, 2015
Opening: September 16, 6–9 pm
In her third solo exhibition at Galerie Barbara Wien, Mariana Castillo Deball is driven by her project Who will measure the space, who will tell me the time? (2015).
The sculptures of the project were first shown in the Museo de arte contemporáneo de Oaxaca (Mexico)(1), then in France, at Musée Régional d’Art Contemporain Languedoc-Roussillon (Sérignan).(2) The presence of the columns is developed further in the Berlin exhibition Reliefpfeiler, benefitting from the selection and composition of the other works on display. They are accompanied by a series of drawings and the fourth issue of the artist’s collaborative research journal Ixiptla (here dedicated to poetry and published in November 2015 by Wiens Verlag and Bom Dia Boa Tarde Boa Noite in Berlin).
The initial question for the project was what relationship the Atzompa potters have with their archeological heritage and how it is expressed, contaminated or dissolved in the present. Far away from taking a purist stance, this work began with a series of discussions on the copies, forgeries, style changes and influences in the history of Mexican archeology. Together with Kythzia Barrera from the institution Innovando la tradición and the family Martínez Alarzón from Atzompa, Deball visited the archaeological museum Rufino Tamayo and selected their favorite pieces. To this set of pieces, they added a lot of nuts and gears found in Ramiro Alarzón’s workshop, also a whipping top, a ball, and other belongings, to form a repertoire, a vocabulary to tell own stories.
The procedure was similar to the surrealist exquisite corpse, Chinese whispers or any other assembly or gossip that adds fragments gradually. The group split in two. The main exercise was to develop a story of two varieties: one that would take place over one hundred years and one that would span just one day.The collaborators ended up with two stories of the origin of the Universe in the two different timespans. Deball writes: "The two stories are almost the same, which got us thinking. Then came the story of the journey of a potter, since he wakes up at dawn to prepare the clay until he finishes the pieces, burns them, and then leaves to sell them in order to buy corn to eat. And then every character became clay, and we ordered them in columns to reach the ceiling, so visitors can surround the stories of top-down and bottom-up."
As is her habit, Deball prefers to pose questions rather than offer answers, generating a space for collaboration and discussion. Indeed, each of the columns constitutes a material response to the two questions:
– How to tell the story of the universe in a hundred years?
– How to tell the story of the universe in one day?
Thus, we are facing elevated rebuses. Several patterns can be identified among the different ceramic modules: pre-Hispanic figures (from Rufino Tamayo’s museum collection in Oaxaca), screws, toys or even Brancusi’s famous rhomboids from the Endless Column. Pottery is the central trade among the population of Atzompa, and the columns play with this ancient tradition to question authenticity, displacing the craft within contemporary art contexts. Somehow, archeological fantasies fix the evolution of ceramic craft. Mingling the traditional and the contemporary in a grotesque hybridization, Who will measure the space, who will tell me the time? re-appropriates and releases a repertoire of patterns. These expressions defy a simulated or merely intellectual encounter between craft and contemporary art. Here, indeed, the two realms do not collide, but are instead produced within each other.
As an alphabetic tic, we compulsively attempt to decipher meaning within the patterns, reading them as words that constitute a coherent sentence. However, the columns are not comprehensive puzzles, but instead propose an alternative system. Even as the columns embody "grand narratives" (here the "story of the universe"), subjectivity renders the answers arbitrary. Who will measure the space, who will tell me the time? could be seen as a playful re-appropriation of "universal history" through local and individual imaginaries. Thus, Deball challenges linear coherence to allow for a discontinuous narrative where ancient and contemporary, history and myth, true and false, authentic and replica meet. The trope of verticality (which appears throughout the exhibition, notably in the drawings) is significant here. It offers an interesting alternative to horizontal linearity, which is privileged in Western spheres as representative of time and history (for example, the chronological frieze to be read from left to right). Palindromic, the vertical column works both ways, defining neither beginning nor end.
In Reliefpfeiler, Castillo Deball does not comment on "grand narratives" themselves but rather reflects on the different systems that generate their representations. Thereby, she draws from several modes of language and their histories, creating a tension where images, reliefs, matter, colors, words and composition become interrelated.
(1) ’’Quién me dirá el espacio, quién me dirá el momento ?’’, Museo de arte contemporáneo de Oaxaca maco, Oaxaca, Mexico, 24.01. - 20.04.2015
(2) ’’Cronotopo’’, Musée Régional d’Art Contemporain Languedoc-Roussillon, Sérignan, France, 28.06. - 30.08.2015
(press release in collaboration with Gauthier Lesturgie)
Mariana Castillo Deball (* 1975 in Mexico City, lives and works in Berlin).
2013 Deball won the Preis der Nationalgalerie für junge Kunst. Her works were shown in many international solo- and group shows e.g. at Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart, Berlin (2014), CCA Glasgow, Haus Konstruktiv Zürich, documenta 13 Kassel (2012), 54. Biennial Venice (2011), Kunst Halle Sankt Gallen (2009), Manifesta 7 Rovereto (2008).