Luca Frei
Hermann Scherchen: alles hörbar machen II
December 1, 2015 – January 30, 2016

Ausstellung: 1. Dezember 2015 – 30. Januar 2016
Eröffnung: Samstag, 28. November, 16–20 Uhr

Scherchen war einer der wenigen Menschen, die ganz natürlich im Neuen leben, in einer für die Entfaltung seiner Vitalitat und die Umwandlung seiner überschüssigen Energie notwendigen Erneuerung. Er hat seinem Ruf nie widersprochen; ich kann ihn als einen bedächtigen Konvertiten beschreiben, einen leidenschaftlichen Förderer, einen Geist, der ebenso abenteuerlustig wie patriarchal war. Können wir auf ihn, wie es Gide für Claudel tat, dieses etwas drastische, aber doch kraftvolle Bild von einem "erstarrten Wirbelsturm" anwenden? (1)

In den Portraits, die Maurice Fleuret direkt nach Hermann Scherchen’s Tod für Le Nouvel Observateur gesammelt hat, verwendet Pierre Boulez dieses passende Oxymoron um den komplexen und unbeständigen Charakter des deutschen Dirigenten wiederzugeben. In dem Begriff "Wirbelsturm" finden wir die Vorstellung von einem eindrucksvollen Chaos, das um ein ruhiges Zentrum kreist. Tatsächlich deutet Scherchen’s Biographie (1891 - 1966) auf eine intensive und turbulente Zeit hin, in der eine Reihe von wichtigen Persönlichkeiten versuchten, die Musikgeschichte auf dem Hintergrund eines sehr breiten Spektrums zu begreifen (es wurde zum Beispiel nach der Musik unter spezifischen politischen Ideologien gefragt, nach moderner und experimenteller Musik, nach der Musik und den Methoden des Aufnehmens und der Tonübertragung, etc.)

Seine zweite Einzelausstellung in der Galerie Barbara Wien Hermann Scherchen: alles hörbar machen II widmet der Schweizer Künstler Luca Frei, der in Malmö lebt und arbeitet, Hermann Scherchen und seiner späten musikalischen Forschung in Gravesano (Schweiz). Frei agiert in diesem Projekt auf verschiedenen Ebenen: als bildender Künstler, als Forschender, als Archivar und als Enkelsohn Hermann Scherchens. In einer skulpturalen Installation reagiert er auf die architektonischen Erfindungen und akustischen Experimente Scherchens, während eine Fotoedition mit dem Titel Gravesano Album, sowie zahlreiches Archivmaterial einen Einblick in die sozialen und musikalischen Ereignisse gibt, die sich rund um das Haus in Gravesano ereignet haben.
Das erste Kapitel von Frei’s Scherchen-Projekt war eine Ausstellung, die im Studio Dabbeni (2) in Lugano stattfand, 8 km entfernt von Gravesano, dem Dorf, in dem Scherchen sein Lebensende verbrachte. Berlin als Schauplatz für das zweite Kapitel ist ebenfalls ein Ort mit hohem Symbolwert für Scherchen. Er wurde in der deutschen Hauptstadt geboren, wo er seine Karriere als Violinist begann; er spielte in verschiedenen Orchestern, u.a. mit den Berliner Philharmonikern. 1933 wanderte er aus Protest gegen das Naziregime aus Deutschland aus.
Schon früh bemerkte Scherchen, dass er kein virtuoser Musiker werden würde und entschloss sich, Dirigent zu werden. Sein intensives kreatives Leben begann 1914. Hier der Versuch eines Überblicks: Er dirigierte unter anderem Orchester in Riga, Frankfurt am Main, Leipzig und Winterthur. Er gründete 1920 die Zeitschrift Melos, in der er ein wöchentliches Essay über das Dirigieren veröffentlichte (zusammengefasst im Lehrbuch des Dirigierens, 1929) und gründete 1950 seinen eigenen Musikverlag Ars Viva. 1919 gründete er die Neue Musikgesellschaft; 1936 rief er in Wien das Orchester Musica Viva ins Leben, ab 1933 organisierte er in ganz Europa Workshops und Konferenzen über moderne Musik und leitete das Studioorchester im Schweizer Radio bis 1950.
Um das letzte und wichtigste seiner Projekte - das Gravesano Elektro-Akustik-Studio - zu verstehen, war 1950 ein entscheidendes, für Scherchen allerdings katastrophales Jahr. Scherchen dirigierte in diesem Jahr das Prague Spring Festival. Aufgrund dieses Auftritts wurde er beschuldigt, die kommunistische Ideologie und Regierung zu unterstützen. Während seiner gesamten beruflichen Laufbahn war Musik für Scherchen eine Methode, um sich zu bilden und das Denken zu öffnen, außerhalb von politischen Gesinnungen und Bündnissen. Aber all seine Erklärungen zu diesem Thema konnten nicht verhindern, dass sich um ihn ein regelrechter Skandal entwickelte. Er wurde vom Schweizer Radio entlassen und verlor seine Position als Dirigent in Winterthur und Zürich. Im Jahr 1950 verließ ihn auch seine Frau Xiao Shuxian und ging mit den gemeinsamen Kindern zurück nach China. Im selben Jahr verstarb Scherchen’s Mutter.

1954 fanden Scherchen und seine neue Frau Pia Andronescu ein 12-Zimmer-Anwesen in Gravesano, einem Dorf mit nur 200 Einwohnern. Fast vier Jahre nach den dramatischen Ereignissen, die auf den Prager Auftritt folgten, schien das Haus ein idealer Zufluchtsort zu sein. An diesem Ort herrschte das Konzept der "Neutralität" auf verschiedenen Ebenen: politisch (durch die UNESCO unterstützt befand sich der Ort außerhalb jeder Nationaliät), künstlerisch (abseits der üblichen Streitigkeiten über alte / moderne oder elektronische / konkrete Musik) und selbst akustisch. Tatsächlich nutzte Scherchen sein Haus, um ein architektonisches Ideal für Aufführung, Aufnahme und Übertragung von Klängen zu erreichen. Er schrieb: ’’Ich möchte einen Raum haben, in dem ich den Raum ausschalte.’’ (3). Mit Hilfe des Architekten Hoeschle konzipierte er drei Studios für verschiedene Funktionen mit jeweils unterschiedlicher Raumgestaltung. Für Scherchen stellte das Studio ein Ideal dar: im Vergleich zur starren Orchesterbühne sah er darin einen flexibel formbaren Raum, ein technisches Mittel, um die Musik von ihrem Beiwerk zu befreien: ’’Durch das Mikrophon ist die Musik zum ersten Mal auf sich selbst gestellt.’’ (4). In diesem isolierten, ungestörten Raum ist es möglich, alles zu hören und hörbar zu machen.

Das Gravesano-Studio war auch ein Ort der Begegnung für Musiker, Tontechniker und viele verschiedene Spezialisten. Es wurden dort internationale und interdisziplinäre Symposien organisiert, die Gravesano für Künstler und Techniker, die mit Ton experimentierten, zu einer Art Initiation werden ließ. Xenakis porträtierte das Projekt als ’’fertile garden where it felt good to blossom’’ (5). Die Zeitschrift Gravesaner Blätter berichtete bis 1966 über diese Aufbruchstimmung und umfasste interdisziplinäre Beiträge von Autoren wie Theodor W. Adorno, Pierre Schaeffer und sogar Le Corbusier.

Die Studios wurden bald nach dem Tod Scherchen’s im Jahr 1966 abgebaut. Wie macht man nun einen Raum und seinen Kontext verständlich, wenn dieser nicht mehr existiert? Frei entschloss sich, keine Modelle von Gravesano zu präsentieren, sondern seine eigenen Arbeiten mit einer ausführlichen archivarischen Dokumentation zu kombinieren. In einem der Galerieräume zeigt Frei eine Installation, die den Grundriss des Hauptstudios in Gravesano aufgreift. Die verschiedenen Teile der Skulptur lassen sich in unterschiedlichen Kombinationen zusammenstellen und beziehen sich auf die Flexibilität des Studios, das verschiedene akustische Muster ermöglichte.

Für die zweite Ausstellung des Scherchen-Projekts intensiviert Frei den Dialog zwischen seiner eigenen Arbeit und dem Archiv. Er nimmt eine ungewöhnliche Position als "Künstler-Archivar" ein: er produziert ein Archiv und entwickelt ästhetische Formen, in denen er sein eigenes Vokabular benutzt, das durch seine Gravesano-Recherchen erweitert wurde. Diese Verbindung ermöglicht Frei Erzählstrategien zu vermeiden, die eventuell einen Mythos um Gravesano begünstigt hätten. Er spricht durch die Sammlungen, die er ausgewählt und zusammengestellt hat, und produziert damit gleichzeitig eine eigene Arbeit, die aus dem Archiv zu Hermann Scherchen heraus entsteht. Diese verschiedenen Stimmen können in der Arbeit Frei’s ungehindert nebeneinander bestehen. Die Forschung zu Gravesano in eine Ausstellung bildender Kunst zu transponieren ist vielleicht der beste Weg, um das dynamische Zusammenspiel verschiedener Welten zu zeigen, das in diesem Mikrokosmos eines universell gebildeten Menschen stattgefunden hat.

Text von Gauthier Lesturgie

(1) Pierre Boulez, Maurice Fleuret, ’’Scherchen: un cyclone figé’’, Le Nouvel Observateur, 22. Juni 1966.
(2) ’’Hermann Scherchen: alles hörbar machen I’’, Studio Dabbeni, Lugano, 19.09. - 07.11.2015.
(3) Hermann Scherchen, Aus meinem Leben. Rußland in jenen Jahren. Erinnerungen – Berlin 1984, S.62.
(4) Hermann Scherchen, ’’Bekenntnis zum Radio’’, unveröffentlichtes Manuskript, Bern 9. August 1944 (HSCHA 17/74/692). Zitiert in Dennis C. Hutchison, ’’Performance, Technology, and Politics : Hermann Scherchen’s Aesthetics of Modern Music’’, Dissertation,The Florida State University School of Music, 2003.
(5) Iannis Xenakis, Maurice Fleuret, op. cit.


Luca Frei, geboren 1976 in Lugano, Schweiz, hat in Lugano, Edinburgh, New Haven und Malmö studiert. Er lebt und arbeitet in Malmö, Schweden.
Neben Einzelausstellungen u.A. im Kunsthaus Glarus, im Bonner Kunstverein und in der Lunds Konsthall nahm er an zahlreichen Biennalen teil (31. Ljubljana Grafik-Biennale, 6. Momentum Biennale Moss, Norwegen, 12. Kairo Biennale, 3. Prag Biennale, 9. Istanbul Biennale). Außerdem war er auf vielen Gruppenausstellungen vertreten u.A. in der Kunsthalle Fridericianum in Kassel, im Centre Georges Pompidou Paris, im Moderna Museet Stockholm, im Van Abbe Museum Eindhoven und in der Kunsthalle Zürich. Für verschiedene Projekte (u.A. zu Lygia Clark) entwickelte Frei in Kollaboration mit anderen Künstlern (wie Falke Pisano und Will Holder) auch Ausstellungsdisplays (u.A. für die Tate Liverpool und Malmö Konsthall)

Exhibition: December 1, 2015 – January 30, 2016
Opening: Saturday, November 28, 4–8 pm

Scherchen was one of the few people that naturally lived in the new; in a necessary novelty for the expansion of his vitality at the expense of his overflow of energy. He never denied his reputation; I can describe him as a cautious proselyte, a solemn instigator, a spirit that was as adventurous as patriarchal. Can we apply, like Gide did for Claudel, this somewhat cruel yet powerful image of a "solidified cyclone"? (1)

In the portraits, assembled by Maurice Fleuret for Le Nouvel Observateur right after Hermann Scherchen’s death, Pierre Boulez borrows a relevant oxymoron to render the complex and unstable character of the German musician and conductor. In the term "cyclone", we find the idea of a formidable chaos circling a calm center. Indeed, Scherchen’s biography (1891 - 1966) suggests an intense and troubled period, inhabited by a farandole of significant figures, searching to comprehend the history of music in a very broad spectrum (for instance, music under specific political ideologies, modern and experimental music, music and the technologies of recording and sound transmission, etc.).

With the exhibition Hermann Scherchen: alles hörbar machen II the Swiss artist Luca Frei (based in Malmö) dedicates his second solo show at Galerie Barbara Wien to Hermann Scherchen and his late musical research in Gravesano, Switzerland.
We find Frei juggling several hats in this project: visual artist, researcher, archivist, and grandson of Hermann Scherchen. In a sculptural installation he reacts to the architectural interventions of Hermann Scherchen and his acoustic experiments, whilst a photo edition titled Gravesano Album and numerous archival material provide an insight into the social and musical events that took place around the house in Gravesano.
The first chapter of Frei’s Scherchen-project was an exhibition in Studio Dabbeni in Lugano (2), located 8km from Gravesano, the village where Scherchen spent the end of his life. Berlin, as the setting of the second chapter, is also a highly symbolic location. Indeed, the conductor was born in the German capital, where he began his career as a violinist; he played in several orchestras, including the Berlin Philharmonic, until 1933, when he left in protest against the Nazi regime.

At a young age, he recognized that he would never be a virtuoso musician and decided to become a conductor. His overwhelming intense creative life would begin in 1914. Here is an attempted overview: he conducted amongst others, orchestras in Riga, Frankfurt am Main, Leipzig and Winterthur. He founded the journal Melos in 1920, publishing a seminal essay on conducting (compiled in Lehrbuch des Dirigierens,1929), and later created his own music publishing house Ars Viva, in 1950. In 1919, he constituted the Neue Musikgesellschaft; he put on the orchestra Musica Viva in 1936 in Vienna, organized workshops and conferences on modern music throughout Europe from 1933 onwards, and led the Studio Orchestra at the Swiss radio until 1950.
1950 was a crucial, if somewhat disastrous year for Scherchen in understanding the ultimate and most significant of his projects : the Gravesano Electro-Acoustic Studio. Scherchen conducted at the Prague Spring Festival of this year. Following this performance, he was accused of supporting the Communist ideology and regime. Throughout his career, music was for Scherchen a tool to educate and open minds, one that moved beyond political attitudes and alliances. Despite his declarations, a veritable scandal surrounded him. He was fired from his role at the Swiss radio, as well as losing his position as a conductor in Winterthur and Zurich. Also in 1950, his wife, Xiao Shuxian left him and went back to China with their children. The same year Scherchen’s mother died.

In 1954, Scherchen and his new wife Pia Andronescu, found themselves a 12-room property, in Gravesano, a village of only 200 inhabitants. Almost four years after such dramatic events, the house appeared to be an ideal refuge. Here, the concept of "neutrality" reigned on multiple levels: politically (supported by UNESCO, the site was beyond any nationality), artistically (outside of any ancient/modern, electronic/concrete music quarrels) and even acoustically.

Indeed, the conductor used his home to reach an architectural ideal for sound play, recording and transmission. He wrote, "I would like to have a space that I can deactivate." (3). Thus, Scherchen surrounded himself with architect Hoeschle to conceive three studios with as many different architectures and functions. For Scherchen, the studio constituted an ideal: a highly malleable space, compared to the rigid orchestral stage. It is a technological tool, which frees music from its accessories: "through the microphone, music is for the first time presented as itself" (4). In this capsule, emptied of disturbances, everything can be heard and made audible.

Gravesano studio was also a residency for musicians, sound engineers and many different kinds of practitioners. International and interdisciplinary symposiums were organized there, making it a rite of passage for sound experimenters. Xenakis portrayed it as a "fertile garden where it felt good to blossom" (5). The journal Gravesaner Blätter reported on this effervescence until 1966, including cross-disciplinary writings by authors such as Theodor W. Adorno, Pierre Schaeffer and even Le Corbusier.

The studios were dismantled soon after their founder’s death in 1966. How to present or make present a space and its context that no longer exists? Frei, opting out of dioramas, rather tackles the exhibition space by mixing his own work with accurate archival documentation. In one of the gallery spaces, Frei offers an installation that reproduces the main studio floor plan in form of a sculptural platform. The different units are movable in numerous combinations, mimicking the malleability of the studio.

For the second exhibit of this project, the dialogue between Frei’s own work and the archive is more vivid. Here, the artist takes up a delicate position as "artist-archivist", at once a true archive producer, and developing aesthetic forms using his own vocabulary fed by this research.
This association allows Frei to escape from storytelling strategies, which would have, in a way, fed the mythical character. Indeed, Frei speaks through the collections he produced and assembled himself, constituting his own work through the archive of another. These different voices can freely co-exist in the artist’s production. Displacing research on Gravesano in a visual art exhibition is perhaps the optimum way to express the vigorous eclecticism that existed in this micro-cosmos of a late polymath.

Text by Gauthier Lesturgie

(1) Pierre Boulez, Maurice Fleuret, ’’Scherchen: un cyclone figé’’, Le Nouvel Observateur, 22 June 1966.
(2) ’’Hermann Scherchen : alles hörbar machen I’’, Studio Dabbeni, Lugano, 19.09. - 07.11.2015.
(3) Hermann Scherchen: Aus meinem Leben Rußland in jenen Jahren. Erinnerungen, Berlin 1984, S.62.
(4) ’’Durch das Mikrophon ist die Musik zum Erstenmal auf sich selbst gestellt.’’ Hermann Scherchen, ’’Bekenntnis zum Radio’’, unpublished manuscript, Bern 9 August 1944 (HSCHA 17/74/692). Cited in Dennis C. Hutchison, ’’Performance, Technology, and Politics : Hermann Scherchen’s Aesthetics of Modern Music’’, Dissertation, The Florida State University School of Music, 2003.
(5) Iannis Xenakis, Maurice Fleuret, op. cit.


Luca Frei, born 1976 in Lugano, Switzerland, studied in Lugano, Edinburgh, New Haven and Malmö. He lives and works in Malmö, Sweden.
Alongside solo exhibitions i.a. in Kunsthaus Glarus, Bonner Kunstverein and in Lunds Konsthall, he participated in numerous Biennials (31st Ljubljana Biennial of Graphic Arts, 6th Momentum Biennale, Moss, Norway, 12th Cairo Biennial, 3rd Prague Biennial, 9th Istanbul Biennial). Furthermore he was represented in many group exhibitions in the Kunsthalle Fridericianum in Kassel, in the Centre Georges Pompidou Paris, in the Moderna Museet Stockholm, in the Van Abbe Museum Eindhoven and in the Kunsthalle Zürich among others. For different projects (i.a. about Lygia Clark), Frei also developed exhibition displays (i.a. for the Tate Liverpool and Malmö Konsthall) in collaboration with other artists (such as Falke Pisano and Will Holder).